Das Protokoll der Loveparade-Katastrophe
Es sollte eine Party werden – aber ab 17 Uhr nimmt das Drama von Duisburg seinen Lauf. WELT ONLINE protokolliert den Hergang der Katastrophe.
Am Morgen: Duisburg erwartet den Ausnahmezustand. 490.000 Menschen leben hier, zur dritten Love-Parade im Ruhrgebiet sollen Hunderttausende Raver kommen. Der Love-Parade-Geschäftsführer Schaller erwartet eine Zuschauerzahl im Millionenbereich. Nur: Auf das Gelände passen offiziellen Angaben zufolge nur 500.000 Menschen.
14 Uhr: Beginn. Vier Stunden sollen 16 Wagen, sogenannte Floats, mit wummernden Bässen um die Tribünen auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs ziehen. Für das Ruhrgebiet soll die Love-Parade ein Glücksfall werden. Man muss kein Marketingexperte sein, um zu wissen, dass der Werbeeffekt riesig sein könnte. Mangels Platz gibt es in diesem Jahr erstmals keine Parade durch die Innenstadt. Die Floats fahren auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs der Stadt im Kreis, um eine alte Abfertigungshalle.
14.30 Uhr: 24 Grad, blauer Himmel. Klaus, 38, ist mit Freundin Anja, 26, aus Münster zur Love-Parade gekommen. Sie ist gut drauf, trägt kurze Hose und Pelz. „Ich finde den Pelz klasse. Wo sonst, wenn nicht hier, kann man so ein Teil tragen“, sagt sie. Die Love-Parade in Berlin sei zwar „einen Tacken besser“ gewesen, trotzdem sei die Liebesparty mitten im Ruhrgebiet eine tolle Sache. „Das ist eine richtig geile Party“, ruft jemand vom Wagen.
Das Wetter erlaubt es, sich mit nacktem Oberkörper zu präsentieren. Die Raver machen davon ausgiebig Gebrauch. Dass es eng ist, macht niemandem etwas aus, denn eng, das gehört zum Massenevent dazu. Auch außerhalb des Geländes tanzen Zehntausende in der Innenstadt, zappelnde, hektische Körper. Ab und zu schreit einer seine Begeisterung in die Luft. Das offizielle Motto lautet „The Art Of Love“.
Nach dem Umzug sollen Stars wie Tiësto aus den Niederlanden, „Love-Parade“-Legende Westbam – es ist seine letzte Love-Parade –, DJ Moguai oder der House-DJ David Guetta („When Love Takes Over“) zur musikalischen Kundgebung auflegen. Die Bundespolizei ist mit über 1200 zusätzlichen Polizeibeamten im Einsatz, um den Besuchern einen sicheren Weg vom Bahnhof zum Partygelände zu ermöglichen, heißt es. Eigentlich ist alles wie immer bei dem Umzug.
15 Uhr: Immer mehr Menschen strömen zum Gelände. In einigen Zügen war Alkohol schon vor dem Startschuss der Veranstaltung ein Problem. Bier und Wodka flossen in Strömen. Bis zum alten Güterbahnhof müssen die Raver vom Bahnhof aus einen ordentlichen Fußmarsch durch die Innenstadt zurücklegen.
15.03 Uhr: 1433 Helfer und 59 Notärzte an 30 Hilfestationen müssen zurzeit noch vor allem Schnittwunden behandeln. Doch immer häufiger hört man die Sirenen des Notarztes, für die Straßen ist der Ansturm inzwischen zu viel.
15.56 Uhr: Die Stimmung auf dem Gelände wird gereizter. Es ist zu voll und immer wieder laufen Menschen über die Gleise. Die Besucher müssen in umliegenden Orten aussteigen und werden mit Bussen zum Gelände gebracht. Der Hauptbahnhof wird gesperrt. Wer zurückfahren will, und das sind nicht wenige, wird nicht in den Bahnhof gelassen. Laute Beschwerden. Erste Rempeleien.
16.45 Uhr: Das Veranstaltungsgelände wird wegen Überfüllung geschlossen. 500.000 wartende Menschen stehen davor und können weder rein, noch zum Bahnhof. Inoffizielle Schätzungen gehen inzwischen von zwei Millionen Besuchern aus. Die Polizei gibt über Lautsprecher Hinweise an die Teilnehmer und bittet sie zurück in Richtung Hauptbahnhof zu gehen. Ein Tunnel in der Karl-Lehr-Straße, vor dem Eingangsbereich des Veranstaltungsgeländes, ist zu diesem Zeitpunkt einziger Zugang zum Gelände. Niemand kann sehen, dass das Gelände hinter dem Tunnel abgesperrt ist.
16.50 Uhr: Teilnehmer laufen über die gesperrte Autobahn A 59 – und dann in den Tunnel in der Karl-Lehr-Straße. Augenzeugen warnen die Polizei vor der Gefahr, berichtet später die dpa. „Wir standen mittendrin. Es hatten immer mehr Menschen noch versucht, zum Gelände zu kommen“, sagte der 21-jährige Fabio. „Wir waren schon durch den Tunnel durch und standen auf dem kurzen Stück vor dem Eingang.
Dort ging es aber nicht weiter.“ Einige seien über Zäune und eine Leiter geklettert. „Wir sind danach durch den Tunnel zurück. Meine Freundin und ich haben schon kaum mehr Luft bekommen und haben die Ellbogen ausgefahren, um noch wegzukommen. Anschließend haben wir die Polizei alarmiert und gesagt, dass es im Tunnel gleich zur Massenpanik kommen wird.“ Passiert sei aber nichts.
16.57 Uhr: Die Polizei greift durch. 300 Beamte stehen vor dem Hauptbahnhof.
Ab circa 17 Uhr: Der Tunnel vor dem Partygelände entwickelt sich zum Nadelöhr. Viele versuchen zur Abschlusskundgebung auf das Gelände zu gelangen. Andere drücken in Richtung Bahnhof. Es geht weder vor noch zurück. Denen, die im Tunnel feststecken, geht der Sauerstoff langsam aus. Ein Augenzeuge sagt, von hinten hätten die Massen gedrückt: „Der Tunnel ließ keine Fluchträume zu.“ Panik entsteht. Menschen versuchen sich den Weg nach draußen frei zu kämpfen, wer hinfällt, wird überrannt.
17.08 Uhr: Twittereintrag eines Besuchers: „sehe ich das richtig, dass die versuchen 1 million menschen über die 1-spurige! TUNNELSTRAßE! Karl-Lehr-Straße mit zwischendurch 2 kleinen trampelpfaden hoch zum veranstaltungsgelände zu führen? also in meinen augen is das ne falle. das kann doch nie und nimmer gut gehen. wer in essen und dortmund dabei war weiß, wie groß das gedränge schon auf recht weitläufigen zugangswegen war. das war ne katastrophe und die wollen ernsthaft den zugang über nen einspurigen TUNNEL leiten?“ Und weiter: „ich seh schon tote wenn nach der abschlußkundgebung alle auf einmal über diese mickrige straße das gelände verlassen wollen.“
17.15 Uhr: 15 Menschen stürzen ab, als sie über eine Absperrung im Tunnel klettern wollten. Ihre Verletzungen, die man später untersuchen wird, deuten auf Quetschungen des Rückenmarks hin.
17.54 Uhr: Die ersten Agenturen: „Duisburg (ots) – Im Verlauf einer Massen-Panik im Tunnel der Karl-Lehr-Straße sind nach bisherigen Erkenntnissen offenbar zehn Personen getötet, zehn Personen reanimiert und etwa 15 Personen verletzt worden.“
18.00 Uhr: Der Tunnel leert sich nach Angaben von Augenzeugen nur langsam. Rettungssanitäter sind im Einsatz, reanimieren, können in manchen Fällen nur den Tod feststellen. Immer wieder starten Rettungshubschrauber von der nahe gelegenen Autobahn, dort haben sich alle Kräfte gesammelt. Unterdessen tanzen Hunderttausende Menschen weiter auf dem Gelände. Die Feiernden werden zunächst nicht über das Unglück informiert, um eine weitere Panik zu vermeiden.
Ab circa 18.10 Uhr: Viele Feiernde erfahren per SMS von dem Unglück. Nach Angaben des WDR war das Handynetz teilweise überlastet. Teilnehmer werden nach 18 Uhr aufgerufen, nach Hause zu gehen, trotzdem dröhnte die Musik weiter – während manche Teilnehmer aggressiv wurden, weil sie nicht mehr auf das Gelände kamen. Im Norden dröhnt die Musik noch aus den Wagen, sagte der Sprecher des Malteser Hilfsdienstes. Bis dorthin habe sich die Nachricht von den Todesopfern am Süden noch nicht verbreitet.
18.23 Uhr: Kevin Krausgartner aus Wuppertal war im Tunnel und beschreibt die grauenhafte Szenerie: „Das hab ich noch nie erlebt. Da lagen 25 Leute auf einem Haufen. Ich hab geschrien, die Leute haben keine Luft mehr bekommen. Ich hab Tote gesehen, da saß einer, der war ganz blass, dem wollte ich Wasser geben. Aber der Sanitäter hat zu mir gesagt, das hat keinen Zweck mehr, der ist tot.“, sagt er. Und weiter: „Die Polizei stand auf der Brücke und hat nichts gemacht“.
18.43 Uhr: „Es war furchtbar, eine schreckliche Massenpanik. Die Leute wurden an die Wände gedrückt. Wir haben noch versucht einige Frauen herauszuziehen. Aber es ging weder vor noch zurück“, sagt Marvin Niggeloh, 19.
18.46 Uhr: Jemand spricht von 45 Verletzten. Die Polizei hält an der Zahl 15 fest.
19.02 Uhr: Langsamer Abgang vom Love-Parade-Gelände. Die Notausgänge des Geländes werden nach Angaben der Stadt Duisburg geöffnet. 120 Busse werden aktiviert, die die Teilnehmer ursprünglich erst in der Nacht nach Hause bringen sollten. Auf der benachbarten Autobahn 59 stehen zahlreiche Rettungswagen und Rettungshubschrauber bereit.
19.06 Uhr: Die Polizei Duisburg twittert: „i.Verl.1er MassenPanik sind n.bisherigen Erk. 10 Personen getötet, zehn reanimiert und circa 15 verletzt worden“
19.18 Uhr: Ein Polizeisprecher bestätigt Medienberichte nicht, wonach sich die Zahl der Toten am frühen Abend auf 15, die der Verletzten auf 100 erhöht habe. Wenig später wird klar: Es sind mindestens 15 Menschen ums Leben gekommen. Eine Sprecherin der Polizei Duisburg sagte, es handle sich um neun weibliche und sechs männliche Teilnehmer. Man hört, es gebe 80 Verletzte.
20.10 Uhr: Die Pressekonferenz im Rathaus beginnt. NRW-Innenminister Ralf Wegner sagt: „Ich bin entsetzt und traurig, dass Menschen, die unbeschwert feiern wollten, gestorben sind.“ Jäger erklärt: „Mein ganzes Mitgefühl gilt ihren Angehörigen und Freunden.“ Nach Angaben des Düsseldorfer Innenministeriums reagierte der Krisenstab der Landesregierung unmittelbar auf das Unglück. Adolf Sauerland, Oberbürgermeister von Duisburg, sagt: „Das ist eine der größten Tragödien, die die Stadt jemals erlebt hat.“ Zu den Vorwürfen, das Gelände sei nicht für die Veranstaltung geeignet gewesen, sagt er: „Zum Zeitpunkt der Katastrophe war das Love-Parade-Gelände noch gar nicht gefüllt“.
23.20 Uhr: Eilmeldung: „Die Zahl der Opfer bei der Massenpanik während der Loveparade hat sich auf 18 erhöht. Das teilte die Polizei am Samstagabend mit. 16 Menschen starben am Unglücksort, zwei weitere Menschen erlagen ihren Verletzungen im Krankenhaus.“
01:43 Uhr: Am späten Samstagabend ist die Veranstaltung ohne weitere größere Zwischenfälle zu Ende gegangen. Wie die Polizei mitteilte, sei die Musik auf dem Festgelände abgestellt und die Besucher per Lautsprecher aufgefordert worden, das Gelände zu verlassen.
03:31 Uhr: Die Zahl der Todesopfer nach der Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg ist weiter gestiegen. Ein Sprecher der Duisburger Polizei sagte, 19 Menschen seien gestorben. Insgesamt seien der Polizei außerdem 342 Verletzte gemeldet worden. Über die Schwere der Verletzungen konnte der Sprecher noch keine Angaben machen.
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Massenpanik auf der Loveparade: 19 Tote – Behörden verteidigen Sicherheitskonzept
Am Morgen nach dem Unglück ist die Zahl der Toten auf 19 gestiegen. 342 Menschen wurden verletzt. Die Fragen nach dem Sicherheitskonzept nehmen zu.
Die Massenpanik bei der Loveparade am Samstag in Duisburg hat mindestens 19 Menschen das Leben gekostet. Diese Zahl nannte ein Polizeisprecher am frühen Sonntagmorgen. Außerdem seien 342 Verletzte gemeldet worden – wie schwer ihre Verletzungen waren, blieb zunächst unklar.
Viele tausende Besucher der Techno-Party gelangten in der Nacht ohne weitere Zwischenfälle nach Hause. Die Katastrophe löste eine Welle von Trauer und Entsetzen aus. Bundespräsident Christian Wulff forderte eine rückhaltlose Aufklärung.
Hunderttausende hatten sich am Samstagmittag auf den Weg zum alten Duisburger Güterbahnhof gemacht. Sie wurden aus zwei Richtung dorthin geleitet, die Menschenmassen trafen zwischen zwei Tunneln aufeinander, wo ein gepflasterter Weg zum Güterbahnhof hinaufführt. Nach Zeugenaussagen entstand dort eine unerträgliche Enge.
Menschen versuchten, eine Mauer und eine Treppe hinaufzuklettern. Als einige von ihnen aus mehreren Metern Höhe in die Menschenmasse unter ihnen stürzten, brach nach Polizeiangaben Panik aus.
Eine Raverin sagte im WDR-Fernsehen, im Tunnelbereich habe es „einfach gar keine Ausweichmöglichkeit“ gegeben. Auch Loveparade-Gründer Dr. Motte kritisierte in seinem Internet-Blog die Sicherheitsvorkehrungen. Ein einziger Zugang durch einen Tunnel berge „die Katastrophe in sich“. An der zum dritten Mal im Ruhrgebiet veranstalteten Loveparade hatten laut Organisatoren über den gesamten Tag verteilt 1,4 Millionen Menschen teilgenommen.
Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) verteidigte das Sicherheitskonzept für die Veranstaltung gegen die sofort aufbrandende Kritik als „stichhaltig“.
Feuerwehren und andere Rettungsdienste auch aus dem weiteren Umland starteten einen gigantischen Einsatz. Die am Partygelände vorbeiführende Autobahn 59, die aus Sicherheitsgründen ohnehin gesperrt war, wurde zum Anlaufpunkt für Rettungsfahrzeuge und Hubschrauber.
Die Techno-Party wurde nach dem Unglück fortgesetzt. Der städtische Krisenstab habe gewollt, „dass diese Veranstaltung in Ruhe ausklingt“ und keine Panik entstehe, begründete Ordnungsdezernet Rabe die Entscheidung. Laut Polizei wurde die Musik gegen 23.00 Uhr abgestellt.
In den Tunnels, in denen sich die Katastrophe abspielte, fuhren noch Stunden später Notarztwagen mit Blaulicht. Leichtverletzte Loveparade-Besucher wurden mit Bussen in Kliniken gefahren.
Bis nach Mitternacht verließen Leichenwagen den Unglücksort. Die Polizei hatte das Gelände mit Zäunen und Sichtblenden weiträumig abgesperrt. In der Nacht kamen erste Trauernde zu dem Tunnel, um ihr Mitgefühl mit den Opfern zu bekunden. Einige zündeten Kerzen an.
Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich von der Tragödie in Duisburg geschockt und sagte: „Zum Feiern waren die jungen Menschen gekommen, stattdessen gibt es Tote und Verletzte.“ Der Präsident der Europäischen Kommission, Manuel Barroso, kondolierte zum Tod so vieler Menschen. Nordrhein-Westfalens neue Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ließ sich in der Einsatzleitstelle der Polizei über die Entwicklung unterrichten. Sie äußerte sich „total betroffen“ und sagte, sie fühle mit den Angehörigen der Gestorbenen und sorge sich um die Verletzten.
An diesem Sonntag (12.00 Uhr) wollen die Veranstalter und die Stadt auf einer schon vorher geplanten Pressekonferenz im Duisburger Rathaus über die Vorgänge berichten. Dabei dürfte die Frage im Vordergrund stehen, ob es richtig war, bei der Erwartung von mehr als einer Million Besuchern und einem Gelände für maximal 250.000 Menschen nur einen Zugang anzubieten, der wiederum nur durch Tunnels erreichbar war.
Oberbürgermeister Sauerland sagte bereits: Es „lag nicht am Sicherheitskonzept, das nicht gegriffen hat, sondern wahrscheinlich an individuellen Schwächen.“ Die Loveparade unter dem Motto „The Art Of Love“ gilt als eine der wichtigsten und größten Veranstaltungen zur „Ruhr.2010“ im Kulturhauptstadtjahr. Die Raver-Parade war 1989 in Berlin gegründet worden und ist 2007 in Ruhrgebiet gezogen.
2009 hatte die Stadt Bochum kein geeignetes Gelände gefunden. In Duisburg fand sie erstmals auf einem abgeschlossenem alten Bahngelände mit nur 15 Wagen, den sogenannten Floats, statt. Dabei musste lange um die Finanzierung gekämpft werden. Die hochverschuldete Stadt steht unter Haushaltsaufsicht und brauchte für ihre Ausgaben die Zustimmung des Landes. Im Sommer 2011 soll die Loveparade in Gelsenkirchen Station machen.
Quelle: welt.de